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Messsucher Fotografie, Elektrisches und Bass

Die ernüchternde Praxis des elektrischen Fahrens

Reichweitenangst, Probleme beim Laden, zu wenig Höchstgeschwindigkeit. Das sind klassische Argumente gegen das elektrische Fahren. Steigern lässt sich das durch den fehlenden Sound und andere vermeintlich wichtige Features. Wo dem Verbrennerliebhaber schnell die Argumente ausgehen, ist die Beschleunigung. Eine Disziplin in der der Verbrenner einfach keinen Stich mehr gewinnen kann. Doch wie sieht eigentlich die Praxis aus? Wo liegt tatsächlich der Unterschied zwischen Verbrenner und Elektro, wenn man mal die klassischen Anwendungen vergleicht?

Der Alltag.

Laut Satistik fährt der deutsche Autofahrer ca. 40 Km am Tag. Dieser Wert für sich alleine würde bedeuten, dass jedes E-Auto, was diese Distanz zurücklegen kann, alltagstauglich ist. Ein E-Auto-Fanboy der ersten Stunde würde diesen Wert für bare Münze nehmen und Dir einreden, das damit jede noch so kleine Batterie für den Alltag reicht. Faktisch ist das unter der gegebenen Prämisse auch nicht falsch, aber in der realen Welt sehr fragwürdig.

Beispiel

Meine Pendelstrecke summiert sich auf Hin- und Rückweg auf 42 Km. Also der perfekte Durchschitt. Nehmen wir mal an ich hätte ein elektrisches Fahrzeug mit einer Reichweite von realen 200 Km (viele E-Autos aus dem Kleinwagensegment bringen diese Reichweiten mit sich). Ich könnte also rechnerisch an 4,7 Tagen der Woche damit zur Arbeit pendeln. Soweit so gut. Ich könnte das Auto jeden Abend an meine Wallbox daheim anschliessen und hätte jeden Morgen 200 Km Reichweite zur Verfügung. Auch super. Mein Alltag ist gerettet.
Jetzt lebe ich vielleicht aber in einer Großstadt und klar habe ich das kleine E-Auto gekauft, weil ich in der beengten Stadt wenig Fläche verbrauchen möchte. Eine Wallbox habe ich als Laternenparker aber gar nicht. Ich will auch nicht jedesmal in der Nacht mein Auto umparken, weil ich sonst die Blockiergebühr an der Ladesäule zahlen müsste und die Frage, ob ich überhaupt einen Parkplatz finde, will ich lieber gar nicht ers stellen. Ich versuche also mit der Akkuladung möglichst lange mobil zu sein.
Die Woche ist vorrüber, der Akku leer und das Telefon klingelt. Eins meiner Kinder muss zu einem Turnier und der Vater, der eigentlich fahren wollte ist ausgefallen. Juhu… ich muss den Akku vollbekommen. Das Turnier der Landesliga ist 90 Km entfernt. Also 180 in Summe. Das ist mit 200 Km Reichweite zu schaffen, aber knapp. Am Zielort kein Schnelllader. Also muss ich planen und taktieren und vor allem: Ich muss jetzt los und Strom ins Auto bekommen… Diese ganzen Gedanken hätte ich mir mit dem Verbrenner niemals gemacht.

Jetzt das echte Beispiel

Ich bin vom elektrischen Fahren voll überzeugt, aber das Konzept Urban-Mobility halte ich für nicht uneingeschränkt für massentauglich. Ich habe mich daher für ein E-Auto mit einer großen Batterie und großer Reichweite entschieden. Mein Pendelstrecke beträgt immer noch 42 Km, aber mein reales E-Auto fährt im Alltag locker 500 Km weit. Die Woche ist also vorbei und ich habe noch 300 Km Reichweite im Akku. Das Kind will zum Turnier, was läppische 180 Km Fahrt bedeutet. So What? Ich fahre ohne Nachdenken hin, feuere meinen Nachwuchs ordnungsgemäß an und bringe die Siegreichen sicher wieder nach Hause. Irgendwann fahre ich dann bei einer Stromtankstelle vorbei und lade voll. Danach warten wieder rechnerische 2 Wochen Ruhe auf mich.

Urban Mobility

Ein kleines stadttaugliches E-Auto mag sicher für den einen oder anderen passen, aber der aktuelle Markt zeigt ein anderes Bild. Laut dem Verband der Automobilindustrie und einigen großen Herstellern, werden E-Autos überwiegend in Kleinstädte und ländliche Regionen verkauft und nicht in die großen urbanen Regionen. Denn: Der Kleinstädter und Landbewohner hat in der Regel eine Lademöglicheit zu Hause. Aber: Passt ein großes Auto mit einer großen Batterie in einen dicht besidelten Ballungsraum? Klar ist: Auch das E-Auto – in welcher Form auch immer – löst nicht das Verkehrsproblem in Großstädten. Und noch ein Aber: Die Welt besteht nicht nur auch Urban-Singles. Für eine Familie macht Urban-Mobility eher auf dem Papier als in Realität sinn – das ist jedoch nur meine persönliche Meinung.

Die Spontanität

Nicht alle 365 Tage des Jahres laufen bei uns gleich ab und es ist wohl nicht falsch anzunehmen, dass das bei Euch auch so ist. Ein Wochenendtrip an die See, eine Feier bei Verwandten, ein verlockendes Shoppingparadies, eine kulturelle Veranstaltung. Es gibt genügend Gründe spontan auf eine Reise zu gehen. Wenn bei uns so etwas ansteht, sind es oft Strecken zwischen 200 und 600 Km (hin und zurück). Und wir planen unser Leben nicht 6 Monate im voraus, sondern die Idee am Wochenende nach Berlin zu fahren, kann auch mal von jetzt auch gleich kommen. Wochendtrips sind immer ein schönes Beispiel für die Realität auf deutschen Fernstrassen. Die Verkehrsdichte ist hoch, das Durchschittstempo niedrig. Die 370 Km nach Berlin fährt das E-Auto mit großer Batterie und Reichweite in einem durch. Fertig. Keine Reichweitenangst, kein Zeitverlust. E-Mobilität funktioniert in der Praxis einfach beruhigend gut – wenn man genug Strom auf die Reise mitnehmen kann.

Die Große Reise

Der Urlaub steht an und Du hast eine 1000 Km lange Anreise vor Dir. Laut Statistik ist das die Strecke, die der Durchschnittsurlauber mit dem PKW pro Reisetag fährt. Wir haben einen elektrischen 2. Wagen, der auf einer Autobahnetappe ca. 150 Km schafft – und dann ziemlich sehr leer ist. Auf 1000 Km müsste ich rechnerisch ca. 7x Nachladen. Jedes mal ca. 45 Min, was sich auf 315 Minuten, also 5,25 Stunden summiert. Bei einem Durchschittstempo von 100 Km/h kommen zu der Ladezeit noch mind. 10 Stunden Fahrzeit hinzu. Das wäre eine Reisezeit von guten 16 Stunden. Wer sowas aus Enthusiasmus machen möchte, den will ich nicht aufhalten, aber ich bin dann raus. Ich müsste mich komplett den E-Auto unterordnen und dann würde ich doch lieber die Bahn nehmen.
Glücklichwerweise haben wir auch einen elektrischen 1. Wagen, der weit jenseits der 300 Km an einem Stück auf einer Autobahn zurücklegen kann und dann noch genug Reserve für das ungeplante Anfahren einer Ladestation hat.

Zu Urlaubszeiten und an den Reisewochenenden ist es voll auf der Straße. Dazu noch ein bisschen Stop & Go und der Verbrauch des E-Autos ist im Keller. Die Realität auf den Straßen holt einen daher wiedereinmal gnadenlos ein. Nach über 3 Stunden im Auto, ist es Zeit für eine Pause, die man nebenbei zum Nachladen des E-Autos benutzt. Sobald der menschliche Körper sich durch Zu- und Abfuhr von Nahrungsmitteln und etwas Bewegung regeneriert hat, wird das Auto vom Kabel getrennt und die Reise geht weiter. Einen Zeitverlust zum Verbrenner gibt es nicht. Auf den 1000 Km in den Urlaub macht man bequeme 3 Pausen, die man sinnvollerweise mit dem Verbrenner auch gemacht hätte. Nach einer Gesamtreisezeit von 11 bis 12 Stunden, sind die 1000 Km abgespult und der Urlaub kann beginnen.

Was ist das Ernüchternde?

Ein Zwischenfazit.
Das Verkehrsaufkommen und die typischen Anwendungsfälle bedeuten für das E-Auto keinen Nachteil gegeüber dem Verbrenner. Natürlich nur unter der Voraussetzung, man hat ein E-Auto, was mehr als 300 Km bei Autobahntempo an einem Stück zurücklegen kann. Zu Glück gibt es solche E-Autos inzwischen auf dem Markt. Wer also will, der kann. Ganz einfach. Es kann also ernüchternd langweilig sein, mit einem E-Auto auf Reisen zu gehen, weil es genauso langweilig ablaufen kann, wie mit einem fossilen Fahrzeug.

Wo das E-Auto derzeit nicht funktioniert

Dafür lassen sich jetzt fast beliebig biele Beispiele herkonstruieren. Vom Bleifuss-Außendienstler, der so schnell wie möglich wieder zu Hause sein möchte, bis zum Hobbyrennfahrer. Einen Grund für eine konservative Haltung lässt sich immer finden. Konservieren heißt bewahren. Ist man konservativ, dann bewahrt man sich und andere davor, sich weiterzuentwickeln. Im Grunde zeigt man damit nur, dass die Angst vor der Veränderung die bestimmende Grundangst ist. Das ist menschlich und muss toleriert werden. Leider kennt der Klimawandel das Modell des Homo Oeconomicus nicht und damit brauchen wir auch keine Beispiele mehr herzukonstruieren. E-Mobilität funktioniert und entlastet die Umwelt in Summe mehr, als das konservative Nichtstun.

Was lernen wir daraus?

E-Mobilität funktioniert bereits heute für viele Bereiche des mobilen Lebens hervorragend. E-Mobilität hat aber auch ihre Schwächen in der Praxis. Dabei bin ich jetzt gar nicht auf Probleme beim Laden eingegangen. Ich will das auch gar nicht thematisieren, weil ich keine Negativerfahrungen mit dem Laden habe und die teils sehr kontrovers geschilderten Ladeprobleme für vollkommen überzogen halte. Mir geht es nur um die Anwendung der E-Mobilität im echten Leben. Als freiheitsliebende, demokratische Gesellschaft, können wir niemanden vorschreiben, für welche Art der Mobilität er sich entscheidet. Solange wir alle die Wahl haben, müssen wir die Wahl eines jeden Einzelnen akzeptieren. Steht der Verbrenner eines Tages nicht mehr zur Wahl, dann diskutieren wir auch nicht mehr. An der Stelle möchte ich erwähnen, dass ich einen verbindlichen Ausstieg aus dem Verbrenner mit all seinen Kosequenzen für absolut richtig halte. Die Zeit der Ausreden der alten Generation muss vorbei sein. Unsere Jugend und alle nachfolgenden Generationen müssen sich darauf verlassen können, dass wir jetzt die richtigen Weichen stellen. Ansonsten können wir eigentlich gleich aufhören, uns zu reproduzieren.
Die Industrie geht unabhängig von der Debatte ohnehin schon ihren eigenen Weg. Der Weltmarkt verändert sich und auch wenn das die Ewiggestrigen nicht sehen wollen: Die Welt kehrt dem Verbrenner den Rücken. Viele Länder haben bereits ein verbindliches Ende für den Verbrenner definiert. Die Nachfrage nach E-Autos übersteigt weltweit das Angebot und damit wird auch die Ausrichtung der deutschen Schlüsselindustrie klar. Ohne politischen Zutun, oder sogar trotz des politischen Nichtstuns, kommt die Transformation zum elektrischen Antrieb ganz von alleine. Der Automobilbau in Deutschland ist ein Export-Geschäft. Da kann man vom Verbrenner träumen so lange wie mal will, aber wenn der Weltmarkt diese Technologie nicht mehr Nachfragt, brauch sich kein Zweifler einbilden, dass de Binnennachfrage in der Bundesrepublik alleine den Export-Verlust auffangen kann.

6 Kommentare

  1. e-mobility news 9. September 2021

    Ernüchternd normal 😁
    Ein guter Artikel, der den Status Quo ebenso gut pointiert.
    Urban-Mobility darf nicht bedeuten, den Verbrenner durch ein E zu ersetzen.
    Wir haben Deine Seite gebookmarkt !

  2. Michael 23. März 2023

    Hallo Matz,

    vielen Dank für Deine vielen Berichte und Hinweise die Du in Deinem Forum gibst! Äußerst hilfreich und vor allem praxisbezogen. Ich informiere mich gerade wie es so ist mit der elektrischen Fahrerei da ich in absehbarer Zeit von Öl auf Strom umstelle.

    Aktuell gehöre ich zur Kategorie „bleifußfahrender Außendienstler“ mit Wohlfühldrehzahl zwischen 4 und 5000U/min. Allerdings, wenn ich ehrlich bin, ich hab die Schnauze gestrichen voll von dieser Fahrerei und erhoffe mir durch den Umstieg auf ein Stromgetriebenes Auto wieder mehr Fahrspaß und etwas „Entschleunigung“.

    Jedenfalls wird der Umstieg auf einen rein elektrischen Antrieb sehr spannend werden – aber ich experimentiere gerne. Zum Entsetzen mehrerer Kollegen habe ich einen ID5 bestellt, die konnten es fast nicht glauben das ich mich auf ein solches Experiment einlasse ;o)).
    Allerdings ist es so, dass sich die meisten täglich zu erreichenden Filialen unseres Unternehmens im Radius von etwa 150km befinden und dort problemlos nachgeladen werden kann. Auf den ersten Blick finde ich deswegen nichts was gegen ein E-Fahrzeug spricht.
    Hin und wieder ist es auch so das mal eine längere Reise bis zu 900km ansteht. Da werde ich mich gewaltig umstellen müssen, weil ich solche Fahrten bisher nur zum Tanken unterbrochen habe.

    Viele Grüße und allzeit gute Reise!

    • Matz 23. März 2023 — Autor der Seiten

      Hallo Michael,
      ob es am Ende wirklich entschleunigt, wird sich dann zeigen. Ich habe mich inzwischen so an die Reichweiten und an die Ladestandorte gewöhnt, das ich eigentlich auch mal zügig fahre. Es ist erstaunlich an was man sich mit der Zeit gewöhnt. 250 Km schaffe ich auch mit Vollgas und die Batterie wird dadurch schön warm. Mit der neuen Ladeleistung von Software 3.1 brauche ich für einen Nachladestop 20 Min. Die Zeit geht schnell rum. Wenn man das nicht täglich macht, geht das prima. Oder eben an die 400 km mit 120. Oder im Sommer mal über Land fahren mit jenseits der 600 km Reichweite – kann man sich ausrechnen.

      Am Ende ist es die Verkehrsdichte, die Dein Vorankommen bestimmt. Neulich mussten wir am Stück 460 km Autobahn fahren, weil wir durch Staus so langsam vorankamen, dass der ID nur 15 kWh/100 km haben wollte.

      Gruß, Matz

  3. Uwe 17. Oktober 2023

    Hallo,
    spannender Blog…Hast Du schonmal eine lange Etappe 800 km im Winter gemacht. Im Sommer geht sowas ja ohne Probleme, aber im Winter, das schreckt mich im Moment etwas ab, so dass ich noch den Verbrenner statt dem Id.4 nehmen würde.

    • Matz 17. Oktober 2023 — Autor der Seiten

      Ja, im Winter sind wir auch schon deutlich über 1000 km gefahren. Das ging ohne Probleme. Wir haben nur 1x öfter geladen als sonst (Sommer). Die Reisezeit war aber in Summe nur 30 Min. mehr.

      Gruß, Matz

  4. Peter Becker 15. Mai 2024

    Sehr gut beschrieben, danke!
    Ich gehöre mit der acht Jahre alten ZOE und kleinem Akku zu der von dir beschriebenen Klientel.
    Der Alltag birgt für damit keinerlei Probleme. Im Winter, wenn die Reichweite auf hundert Kilometer schrumpft, muss ich etwas planen. Ansonsten sind auch längere Fahrten machbar, denn die ZOE lädt an der Säule in zwanzig Minuten von 10 auf 90%. Kann man manchmal machen. kommt mir aber mit 55 cent gegenüber 29 Cent zuhause als Abzocke vor. Dies und auch die Mentalität der Werkstätten zusammen mit dem Hersteller teure Wartungspläne ausgetüftelt haben, könnte dem E-Auto auf Dauer ein Bremsklotz sein.

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